„Es tut weh, aber man sieht: Wir sind stark“

Arash T. Riahi über NERVEN BRUCH ZUSAMMEN.
Auszüge aus einem Gespräch mit Claus Philipp

 

CP: Können Sie kurz die Genese Ihres Films skizzieren?

AR: 1999/2000 habe ich den Zivildienst im Haus Miriam der Caritas absolviert, einem Übergangswohnheim für obdachlose Frauen. Nach ein paar Monaten kam mir die Idee – für einen Filmemacher wohl naheliegend – dass es schön wäre, meinen persönlichen Zugang zu diesen Frauen zu „nützen“, um einen Film über sie zu machen. Die Heimleiterin fand das auch sehr gut. Es war klar, dass nur die Frauen gefilmt werden, die dies auch wirklich wollten, die ihre Geschichte nach außen bringen wollen. Ich habe in der Zeit des Zivildienstes mit diesen Frauen gedreht und bin über die Jahre in Kontakt geblieben. Nach zehn Jahren habe ich das Haus wieder besucht, einige Frauen von damals wieder getroffen, und habe jetzt einen Film gemacht, in dem ich zeige, was aus ihnen inzwischen geworden ist. Wie sich bestimmte Geschichten wiederholen. Und ich hab wieder ein Jahr mit neuen Frauen im Haus verbracht.

Mein Zugang zum Dokumentarfilm ist folgender, ich mache Filme über Dinge, die mir wichtig sind, über Menschen, die ich gerne habe. Bis jetzt habe ich keinen Film über Menschen gemacht, die ich nicht mag. Ich mache Filme über gesellschaftspolitische Situationen, Probleme dieser Menschen, die mir am Herzen liegen. Diesmal sind es Frauen gewesen, die in der Notlage sind, Frauen, für die sich ganz wenige interessieren. Oft sind sie aus dem sozialen Gefüge gefallen, haben fast keine Verwandten oder keinen Kontakt zu ihnen.

Für mich ist Filmemachen nicht die Befriedigung meines künstlerischen Egos, sondern immer ein Geben und Nehmen. Es ist eine Frage des gegenseitigen Vertrauens. Es war mir wichtig, dass ich den Frauen aus dem Frauenhaus ihre Würde lasse und auch ihr Geheimnis. Das habe ich ihnen auch vermittelt: „Ich möchte mit euch einen Film machen, nicht über euch. Ihr seid Teil meines Filmes, ihr gebt mir das was ihr geben könnt, was ihr geben wollt. Ihr werdet während der Arbeit sehen, ob ihr mir vertrauen könnt, oder nicht. Ich werde mein Bestes geben. Ihr habt das Recht, den Film noch vor der Veröffentlichung zu sehen.“ Als ich ihnen dann letztlich den Rohschnitt gezeigt habe, wollten sie am Film nichts verändern. So sind wir diesen Weg gemeinsam gegangen.

CP: Wie sehr waren den Frauen die Möglichkeiten der Öffentlichkeit, die der Film schafft, bewußt?

AR: Etwa ein Viertel der 40 Frauen, die im Haus wohnen, hatten sich für das Projekt gemeldet. Während der Dreharbeiten haben sich zwei, drei Hauptfiguren herauskristallisiert. Sie bemerkten für sich, dass ihnen die Kamera als Sprachrohr dient und dass sie vielleicht sogar eine Waffe ist, mit der sie auch zurückschlagen können und sich Gehör verschaffen können. Immer mehr haben sie den Film und die Arbeit an ihm in ihr Leben eingebunden. Ich habe immer öfter Anrufe bekommen, manchmal auch in der Nacht, wenn etwas passiert ist, da musste ich sofort kommen und alles filmen. Man hat gemerkt, dass dieses empowerment beginnt schon beim Prozess des Filmemachens.

CP: Und er äussert sich in einer teilweise sehr eigenwilligen Sprache.

AR: Eine Protagonistin des Filmes, die Syrerin Rula, ist eine Ingenieurin, die nach Österreich kam. Ihr erster Mann hatte ihr ihre beiden Kinder weggenommen. Sie musste versuchen, hier zu überleben. Ihre Sprache ist sehr blumig, sehr speziell. Sie verwendet arabische Grammatik, um deutsche Sätze zu bilden, und das hat eine ganz eigene Poesie. Der Titel NERVEN BRUCH ZUSAMMEN wurde durch ihre Sprache inspiriert. Sie hat einmal gesagt: „Ich habe einen Nervenbruch zusammen gehabt“, oder sie formuliert Sätze wie „Mein Mann hat angerufen und Telefon Blödsinn gemacht.“ Ich habe es sehr schön gefunden, welche verquere Form von Wahrheit man da „liest“.

CP: Sie sagen, Sie machen Filme über Leute, die Ihnen nahe sind, oder die Sie gerne haben. Das war mit „Exile Family Movie“ ein Film über Ihre eigene Familie und es wird in „Everyday Rebellion“ ein Film über Leute, die friedfertig gegen gesellschaftliche Missstände in der Welt opponieren. Wie äußert sich Ihr emphatischer Blick in den Filmen?

AR: Was mir fremd ist: Die im Dokumentarfilm weit verbreitete Skepsis, dass man seinen Protagonisten nicht „zu nahe“ kommen soll. Das geht oft bis zur Verweigerung von Close-ups, Nahaufnahmen. Ich denke aber: Wenn ich das Vertrauen meiner ProtagonistInnen habe, dann kann ich ihnen auch näher kommen, ihnen näher rücken. Dieses Näherrücken ist nicht ein Einbruch in ihre Privatsphäre, sondern ein gemeinschaftliches Ding. Wenn ich mich mit einem Thema beschäftige, dann will ich meinen Protagonisten sehr nahe kommen, ohne ihnen zu nahe zu treten, ich kann die Landschaften in ihren Gesichtern studieren. Das ist vielleicht sehr intuitiv, aber ich brauche keine stilistische Form, die ich meinen Themen drüberstülpe. Ich bin kein Dogmatiker. Sicher, ein Film über ein Frauenhaus könnte auch sehr reduziert und „streng“ sein. Aber für mich ist es wichtiger, dass ich diesen Leuten etwas zurückgebe und mit den Filmen nicht mein eigenes Ego befriedige.

CP: In Zeiten, wo gesellschaftliche Themen nicht selten über das Fernsehen, video on demand und Internet breitere Ausstrahlung erfahren – was bedeutet Ihnen da noch das Kino?

AR: Extrem viel! Ich bin süchtig danach. Ich merke einfach, wenn ich eine Woche nicht ins Kino gehe – da fehlt irgendwas. Ich habe eigentlich nie Drogen ausprobiert, aber ich weiß, wie es sich anfühlen muss, weil ich vom Kino abhängig bin und süchtig bin, oder vom Film.

Für mich ist aber wichtig, dass meine Filme benützt werden, Gebrauchsgegenstände des Alltags werden und nicht Kunstwerke, die man irgendwo ablegt. Deshalb freue ich mich auch, wenn „Exile Family Movie“ oder „Ein Augenblick Freiheit“ immer wieder in Schulprogrammen aufgenommen werden, für NGOs und Universitäten von Bedeutung sind, per Video on demand Verbreitung finden, Diplomarbeiten darüber geschrieben werden. Es gibt Menschen da draußen, die etwas mit diesen Gebrauchsgegenständen anfangen können. Auch bei dem jetzigen Film gibt es, glaube ich, nicht nur das Kino, wo man ihn anschauen kann. Möglicherweise werde mit einem Film über ein Frauenhaus kein Massenpublikum anziehen – gut wär’s! -, aber ich möchte zumindest möglichst viele Menschen damit ermutigen, auch in schwierigsten Situationen Kraft zu schöpfen.

CP: Gibt es einen besonderen Moment, den Sie mit NERVEN BRUCH ZUSAMMEN verbinden?

AR: Das war wahrscheinlich wirklich der Augenblick, als ich den ersten Anruf von einer Protagonistin bekommen habe und sie mir sagte, ich solle kommen, es wird jetzt etwas passieren… „Film das!“ Für mich war das die Umkehrung des Konzeptes des Filmemachens. Das Machen ist von der Frau ausgegangen und ich wurde zu ihrem Instrument. Das habe ich sehr gut gefunden. Das war der Augenblick des empowerments, dass diese Person mich einlädt, abzubilden, was ihr wichtig ist. Wenn man Filme macht, die von Menschen in Krisensituationen handeln, ist es natürlich auch sehr unangenehm. Du bist da und filmst etwas, das für diese Menschen eigentlich unangenehm ist. Sie sind in einem Obdachlosenheim, sie haben Ihre Würde zum Teil verloren, haben niemanden mehr und sie lassen sich von Dir filmen. Das ist ein Wahnsinn, dass das jemand zulässt. Und Du bist immer wieder in der Phase des „Darf ich das filmen, darf ich das nicht? Beute ich sie aus, oder nicht? Und dem habe ich am Anfang gleich entgegengesetzt: Ihr entscheidet was passiert, ihr gebt mir was ihr mir geben wollt. Wir machen gemeinsam diesen Film. Nützt mich aus, benützt diesen Film, lasst uns das gemeinsam machen. Und der Augenblick, in dem mich eine Protagonistin angerufen hat und gesagt hat, „Komm ,film das!“ – da habe ich gemerkt, es funktioniert und sie benützen diesen Film auch für sich. Deshalb gibt es auch am Ende des Filmes eine Nachricht von einer der Frauen an ihre Kinder, die vielleicht irgendwann den Film sehen werden und ein Stück andere Realität mitbekommen, als das, was ihnen die Väter vielleicht vorgelogen haben.

CP: Würde. Was ist das für Sie?

AR: Menschliche Würde ist für mich, wenn ich entscheiden kann, wie ich mit meinem Leben umgehe. Wenn ich ein selbstbestimmtes Leben habe, in einem Maße, in dem ich andere Menschen nicht behindere. Und oft ist es so, dass die Personen, die vielleicht die Schwächeren in unserer Gesellschaft sind von der Erfolgsgesellschaft von der Ellbogengesellschaft einfach an den Rand gedrängt werden und nie zu Wort kommen, nie sagen können, was sie eigentlich gerne hätten, wie sie gerne leben möchten, was sie gerne für eine Arbeit machen möchten. Und das ist der Augenblick, wo die Würde zu tragen kommt. Wo man sagt: Ich will das und das. Ich will und ich hol mir das und ich erkämpfe mir das. Und das ist diesen Frauen in diesen Notsituationen oft abhanden gekommen. Es war ein sehr schönes Gefühl als wir auf der Diagonale die Premiere hatten. Es waren 16 Frauen da und unter Tränen sind sie vor dem Publikum gestanden. Und eine sagte: Es ist schwierig, es tut weh, aber man sieht, wir sind stark. Es war schön zu sehen, wie die Frauen am Beginn des Filmes geknickt in den Kinosaal gekommen sind, sich natürlich vor der Zuschauermenge auch gefürchtet haben. Und am Ende stolzen Hauptes raus gegangen sind, obwohl sie eigentlich was Unangenehmes aus ihrem Leben geteilt haben. Das hatte Würde.